Montag
Sein letzte Telefonat des Tages sollte mit einem neuen Lieferanten stattfinden und er hatte sich vorgenommen, einen guten Eindruck zu machen.
“Siegfried”, nannte er seinen Namen. “Aber meine Freunde nennen mich Siggi”, fügte er hastig und leise hinzu und setzte dabei ein unsicheres Lächeln auf. Er lauschte und spürte dabei, wie sich das Lächeln zu einer Grimasse verzog. “Ja genau, Siegfried”, bestätigte er einen Augenblick später zerknirscht. Wenig später legte er auf und wischte sich mit zitternden Händen den Schweiß von der Stirn. Er hasste das Telefonieren.
Zu Feierabend eilte Siegfried zur Garderobe, fast als wäre er auf der Flucht, und wäre dabei fast in seinen Vorgesetzten hineingelaufen. Der glatzköpfige Herr Domatis war zwei Köpfe größer als Siegfried und breit wie ein Schrank.
“Machen Sie heute etwas länger?”, fragte der Riese. Eigentlich klang es überhaupt nicht nach einer Frage.
Siegfried schaute bedrückt zu Boden. “Ja, natürlich”, antwortete er ergeben, machte auf der Stelle kert und ging mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern zurück zu seinem Arbeitsplatz.
Damit war seine praktisch einzige Freizeitbeschäftigung, sein geliebter Besuch im Café Capriola nach Feierabend, abgesagt. Wie eigentlich jeden Montag, und so ziemlich jeden Mittwoch und Freitag, schon seit er hier arbeitete.
Wenn die Überstunden wenigstens bezahlt würden…

Dienstag nach Feierabend
Im Café Capriola hatte Siegfried sich zu seinem Stammplatz in der stillen Ecke geschlängelt und sich leise und demütig bei den drei Leuten entschuldigt, die ihm dabei über den Weg gelaufen waren, um sich dann möglichst unauffällig auf seinen Lieblingsstuhl zu schieben.
Er hatte vor, sich einen veganen Burger und einen Smoothie bestellen. Eigentlich wollte er einen Burger mit Pommes und ein Milchshake dazu, aber seine Arbeitskollegin hatte ihm in der gestrigen Mittagspause ins Gewissen geredet, wie ungesund er sich doch ernährte und dass man sich heutzutage bewusst zu ernähren hatte.
Die Frau mit dem Laptop war wieder da. Die personifizierte Eleganz mit der frechen, strohblonden Frisur saß in der anderen Ecke, zehn Meter entfernt von ihm, tippte mit flinken Fingern auf der Tastatur herum und blickte hoch konzentriert auf den Bildschirm. Heute trug sie eine auffällige, weiße Bluse mit Spitzen und Rüschen. Er hatte immer vorgehabt, sie anzusprechen.
Jetzt saß er seit über einer Stunde hier, und ein weiteres Mal war die Frau gegangen, wie schon all die Male davor. Die Bedienung hastete nun bereits zum zehnten Mal an ihm vorbei; er hatte mitgezählt. Nachdem er acht Male still auf seinem Platz gesessen und darauf gewartet hatte, dass seine Bestellung aufgenommen würde, hob er nun zum zweiten Mal zaghaft den Finger. Zum zweiten Mal jedoch erst zu einem Zeitpunkt, zu dem die junge Dame ihm bereits den Rücken gekehrt hatte.
Mit hochrotem Kopf begann er schließlich damit, umständlich aufzustehen und seine Sachen zu packen.
“Möchten Sie zahlen?”, fragte ein junger Mann in der Uniform des Cafés im freundlichen Tonfall und tippte dabei auf seinem Gerät herum, mit dem er die Bestellungen und Zahlungen bearbeitete.
“Ich hab gar nichts gehabt”, murmelte Siegfried verlegen, “weil seit einer Stunde niemand meine Bestellung aufgenommen hat.”
“Das tut mir leid”, entschuldigte sich der junge Mann mit ehrlicher Betroffenheit. “Haben wir Sie etwa tatsächlich übersehen?”
Siegfried verzog zur Antwort nur die Mundwinkel und wirkte, als ob er sich mit seinem Schulterzucken seinerseits entschuldigen wollte und drängte sich an seinem Gesprächspartner vorbei, um hastig das Café zu verlassen. Eine Gruppe Jugendlicher hinter ihm war laut am Lachen und er zog den Kopf noch ein bisschen mehr ein.
Solche Tage waren typisch für sein Leben. Schon seit Jahren. Eigentlich sogar so weit wie er zurückdenken konnte. Es gab eine Zeit, da hatte er sich noch gefragt, ob es nicht auch anders funktionieren könnte. Doch mittlerweile hatte er die Rolle akzeptiert, die das Leben ihm zuzuweisen schien. Mit Magenschmerzen und zusammengekniffenen Lippen fuhr er nach Hause und leerte eine Flasche Wein.


Mittwoch morgen
Siegfried stand im Badezimmer und schaute in den Spiegel. Nach der Dusche hätte er frisch und munter aussehen sollen. Doch Siegfried sah etwas anderes. Er sah heute ungewöhnlich alt aus, geradezu um Jahrzehnte älter, verbraucht und abgenutzt, unglücklich und unzufrieden. Mund und Augen sprachen von tiefer Traurigkeit und verbissener Verbitterung. Er war nach vorne gebeugt und ließ die Schultern hängen. Er spürte die Hoffnungslosigkeit, die er vor sich sah. Was ihn jedoch wirklich erschreckte, war das Ausmaß an Angst, welches ihm aus dem Spiegel reflektiert wurde. Angst vor der Arbeit, vor Menschen, vor dem Scheitern, vor Peinlichkeiten und sogar vor seinen eigenen düsteren Gedanken.
Er brach zusammen und konnte sich an die folgenden zwei Stunden später nur noch vage erinnern.
Üblicherweise schleppte er sich in jedem gesundheitlichen Zustand und mit jeder Verfassung zur Arbeit. Heute allerdings musste er sich einen Tag Urlaub nehmen. Morgen am besten gleich dazu. Er hätte natürlich auch zum Arzt gehen können, aber sowas sah man in der Firma nicht gerne.

“Das hätten Sie mal besser früher angemeldet”, schimpfte die Sekräterin Frau Skylla am Telefon. “Das nächste Mal überlegen Sie sich sowas gefälligst rechtzeitig”, zischte sie, bevor sie auflegte.
Siegfried ertappte sich dabei, sich noch eine Stunde nach dem Telefonat still und mit Tränen in den Augen zu entschuldigen.
Gegen Mittag entdeckte der am Boden zerstörte Angestellte eine Anzeige im Internet, die seine volle Aufmerksamkeit weckte. Minuten lang verharrte er und starrte darauf. Dann machte er weiter, rief andere Websites auf und recherchierte für seine Arbeit. Eine Stunde und viele Tränen später drückte er so lange auf den “zurück”-Knopf, bis er die Anzeige wieder vor sich hatte.
Er griff zum Telefon, legte es wieder weg, überlegte, weinte nochmal und griff schließlich wieder zum Telefon. Er wählte die Nummer. Zaghaft sprach er in den Hörer. Musste sich wiederholen, lauter sprechen. Die andere Stimme war freundlich und verständnisvoll.
“Gleich Morgen?”, fragte Siegfried schließlich. Er schüttelte mit dem Kopf. Er spürte die Angst. Erstarrte. “Okay”, flüsterte er.

Freitag
“Richtig, ich heiße Siegfried, aber nenn mich doch Siggi, das ist doch viel weniger formell”, sprach Siggi entspannt in den Hörer, während er sich lässig mit seinem Bürostuhl hin und her drehte. “Klasse, ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Hab einen schönen Feierabend!”, beendete er das Gespräch mit dem neuen Lieferanten, der ihn am Montag vertröstet hatte. Nachdem er aufgelegt hatte, klatschte er in die Hände, als wolle er sich selber applaudieren.
Zu Feierabend fuhr Siggi seinen Rechner runter, als Herr Domatis den Raum betrat und eine ernste Miene zur Schau stellte.
“Machen Sie heute etwas länger?”, fragte der Mann ohne Haare.
“Nein”, antwortete Siggi entspannt, ohne von seinem Bildschirm aufzuschauen.
“Ich meinte: Können Sie heute etwas länger machen? Es ist wichtig, dass…”, begann der Vorgesetzte in einem etwas lauteren Ton und legte seine Stirn in Falten. Das war immer ein sicheres Zeichen dafür, dass er kurz davor war unangenehm zu werden.
Siggi lehnte sich zurück und schaute dem Riesen in die Augen.
“Nein”, unterbrach er Herrn Domatis etwas nachdrücklicher.
Herr Domatis trat einen Schritt vor und schien noch um einen Kopf zu wachsen.
“Und warum nicht?”, fragte er forsch. Seine Augenbrauen senkten sich ab, wie zwei Panther, die sich zum Angriff bereit machten.
Siggi lächelte.
“Was spielt das für eine Rolle?”, entgegnete er leise, aber mit einem durchdringenden Tonfall.
Herr Domantis schaute verwirrt umher, als suchte er in der Umgebung nach einer Erklärung.

Siggi ließ ihm keine Gelegenheit zu einer Antwort.
“Werden die Überstunden eigentlich bezahlt?”, fragte er mit gespieltem intensiven Interesse und im naiven Tonfall, während er eine Liste voller Daten und Zahlen aus der Schublade zog.
Der Riese wurde bleich. “Das muss ich in Erfahrung bringen”, murmelte er, ohne dabei den Augenkontakt zu halten. Geradezu fluchtartig verließ er das Büro.
Siggi lächelte siegessicher und verstaute die Fahrtkostenaufstellung vom Handelsvertreter der Firma wieder in der Schublade, bevor er aufrecht und in aller Ruhe das Haus verließ und sich von den überraschten Kollegen verabschiedete.

Freitag nach pünktlichem Feierabend
Siggi betrat das Café. Mit einem wachsamen und freundlichen Blick nickte er der Bedienung zu. Sie signalisierte ihm, dass sie sich in wenigen Augenblicken um ihn kümmern würde und griff bereits nach ihrem Gerät für die Bestellungsaufnahme. Lächelnd schlenderte er zum Tisch in der Ecke – nicht zu “seinem” Tisch, sondern zu dem Tisch, an welchem er regelmäßig die Frau mit den wilden, blonden Haaren beobachtet hatte. Er hielt inne. Anscheinend war sie heute nicht da. Dann entschied Siggi, sich trotzdem an “ihren” Tisch zu setzen. Zwei Tische weiter wurde laut gelacht und Siggi schaute interessiert, worüber man sich dort amüsierte. Er fand es nicht heraus. Es ging jedenfalls nicht um ihn.
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Schließlich fiel ihm sein alter Stammtisch ins Auge. Einen Augenblick traute er seinen Sinnen nicht: “Sie” saß an seinem Tisch! Sie schaute gerade von ihrem Laptop auf und ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment waren beide verunsichert, dann lachten sie sich herzlich zu. Siggi stand auf und begab sich zu ihr.
“Was darf ich Ihnen bringen?”, fragte die Bedienung, die prompt ebenfalls am Tisch stand.
Siggi setzte sich, lächelte und sagte, mehr zu der Frau am Tisch gewandt: “Hallo, ich bin Siggi. Wir hätten gerne einen Burger mit Pommes und einen Erdbeershake. Und dann noch…?”
Fragend blickte er die Frau mit dem Laptop an. Sie musste grinsen. “Beides zweimal bitte”, antwortete sie.
Alles, was dann folgte, ist bereits eine andere Geschichte.

2 Antworten auf „Ein Leben in Angst und der schicksalhafte Donnerstag“
Ja, in dieser Story erkenne ich einige Jahre meines Lebens wieder, danke Marten. Wie gut, dass es immer Auswege gibt, wenn man es wagt, sich aus der Angst zu befreien und u.U. auch helfen zu lassen.
Danke für den wertvollen Kommentar, liebe Ari. Genau, es gibt praktisch immer Wege. Und viel wichtiger ist, dass man es nicht alleine schaffen muss. Es ist eine Stärke, sich Hilfe holen zu können.